Idiolektik in Gesundheitsberufen
In der Medizin findet Idiolektik vielfältige Anwendung:
Einerseits durch die sehr verschiedenen Berufsgruppen von ÄrztInnen, Pflegenden, TherapeutInnen, medizinischen Fachberufen bis hin zu den Verwaltungen mit kleinsten Organisationseinheiten bis zu maximal versorgenden Kliniken. Gleichzeitig entsteht Vielfalt durch zahlreiche medizinische Disziplinen von der hausärztlichen Versorgung, über alle Varianten sprechender, interventioneller bis hin zur „High-Tech-Medizin“. Idiolektik lässt sich in sämtlichen Bereichen einsetzen und bewährt sich bei verschiedenen Patientengruppen, Diagnosen und Problemstellungen. Idiolektik ist geeignet, um diese Herausforderungen im Sinne einer „High-Touch-Medizin“ zu erweitern.
In unserem Medizinsystem ist es sehr schwierig, sich effizient und effektiv in einer bedingungslosen Weise an der subjektiven Lebenswelt von PatientInnen zu orientieren. Personenzentrierung und Subjektorientierung sind zentrale Aspekte einer medizinischen Versorgung, die gewillt ist, den Menschen im Patienten zu berücksichtigen. Idiolektik ist die Methode dazu. Die Methode ist im Fachgebiet Psychiatrie und Psychosomatik entstanden und hat sich mittlerweile in viele andere Fachdisziplinen ausgeweitet.
Idiolektik in Pflegeberufen
Die Anwendung idiolektischer Kommunikationselemente führt durch Sicherheit, Anerkennung und Wertfreiheit zu mehr Vertrauen und damit, als Grundlage der Pflege, zu einer qualitativ tragenden Beziehung. PatientInnen erleben Angenommensein und Wohlbefinden, was die Gesundung fördert, Klärung ermöglicht und Konflikte entschärfen kann. Für Pflegende bedeutet das Entlastung, Leichtigkeit und mehr Freude im Beruf.
Der praktische Nutzen zeigt sich in verschiedenen Anwendungsbereichen: im direkten Patientenkontakt, in der Pflegeanamnese, bei Teamgesprächen, in pädagogischen Settings wie Praxisanleitung, bei Unterrichts-, Seminar- und Prüfungsgestaltung, sowie in Führungsaufgaben.
Gesprächsbeispiel aus der Pflegepraxis:
Eine Pflegefachperson führte folgendes Gespräch:
Während einer Standardpflegehandlung (Urinablassen) äußert ein Patient:
Pat.: „Ich will nicht mehr auf der Welt sein!“
Ich: „Was möchten Sie mir erzählen?“
Pat.: Ich habe mir nicht vorgestellt, dass Altwerden so schwer ist… (Pat. redet 5 Minuten)
Ich: (habe zugehört)
Pat.: „…im Himmel sieht alles ganz anders aus!“ (Pat. wendet den Blick ab)
Ich: „Wie sieht es denn im Himmel aus?“
Pat.: (zögert kurz) „Da ist alles so leicht und vor allem habe ich keine Schmerzen mehr!“
— Gespräch kippte in eine froh gelaunte und positive Stimmung…
Bemerkungen: Der Patient hat in vorangegangenen Situationen die Schmerzen nie erwähnt. Nach diesem Gespräch konnte eine adäquate Schmerztherapie angewendet werden.
In diesem Gespräch sind die Elemente der idiolektischen Gesprächsführung zu erkennen. Am Anfang stellt die Pflegefachperson eine offene Frage: „Was möchten Sie mir erzählen?“ Daraufhin kann der Patient das sagen, was ihm wichtig ist. Als der Patient eine vermeintliche Schlüsselaussage macht: „Im Himmel sieht es ganz anders aus“, erkennt die Pflegefachperson, dass in dieser Äußerung möglicherweise ein Zugang zu weiterer Bedeutung steckt. Sie stellt wiederum nur eine offene Frage: „Wie sieht es denn im Himmel aus?“ Der Patient kann auf diesem Weg auch seine Schmerzen ausdrücken.
Pflegende haben oft wenig Zeit, um mit Patienten zu reden. Man sieht an diesem Gespräch, dass in nur kurzer Zeit wichtige Informationen hervortreten. Der Patient lag ca. sieben Wochen auf der Station und es war ihm – aus welchem Grund auch immer – nicht möglich seine Schmerzen bekannt zu geben. Hier ist die Bedeutung einer adäquaten Schmerztherapie für die Lebensqualität des Patienten, aber auch für die professionelle Leistung der Pflegefachperson zu sehen.
Des Weiteren ist zu sehen, dass ein Gespräch, am Anfang doch sehr schwerwiegend begonnen, in einem kurzen Verlauf an Leichtigkeit gewinnt. Nicht etwa durch „es wird schon wieder“, sondern durch offene Fragen, mit der entsprechenden Haltung von hinhören und Aufgreifen von Schlüsselbegriffen. Das kann gelernt werden.
In einem Nachgespräch sagte die Pflegefachperson: „Früher hätte ich auf so eine Aussage: „Ich will nicht mehr auf der Welt sein“, nicht gewusst was ich antworten sollte und wäre beim Patienten nicht stehen geblieben.“
Durch eine idiolektische Haltung und Kommunikation können Pflegende die Qualität ihrer Arbeit vertiefen. Damit tragen sie zum Wohle des Patienten bei, aber auch ihr eigenes Wohlbefinden ist wichtig und kann gestärkt werden.
Dieses Gesprächsbeispiel war einem Studenten nach einem Seminar im 3. Semester an der Katholischen Hochschule in Mainz möglich. Ich danke ihm. (Christa Olbrich)